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Mittwoch, 12. November 2025

Rezension zum neuen Lyrikband von Patrick Hattenberg

  

Matthias Schramm

Kevin & Patrick Hattenberg: 

Nebel Leben. Gedichte. 

Berlin (PalmArtPress) 2025. 110 Seiten.
 
link zur Rezension:



Aus dem Nebel heraus Leben entstehen lassen

Kevin und Patrick Hattenberg, geboren 1992 in Kiel, sind Zwillingsbrüder, Psychologen und Dichter, deren lyrisches Schaffen – insbesondere „Hirnherbst“ und der nur von Patrick Hattenberg geschriebene Band „Heimathaut“ – die Verbindung zwischen Seele und Sprache sucht. Nein, es ist nicht die Verbindung: die Sprache möchte mit der Seele amalgamieren.


In „Nebel Leben“, 2025 erschienen im Verlag PalmArtPress, treiben sie diese in Kunst gemeißelte Selbstreflexion weiter: Es ist keine Poesie über das Leiden, keine Deliranz, sondern ein Gang durch das Leiden hindurch, ein Wanderpfad durch alle Erfahrungen, das Unsagbare wird versucht, sagbar zu machen; stets mit der Aussicht auf Wachstum, aber auch auf das Scheitern vor oder nach dem Wachstum. Der Band hat keine Angst vor dem Scheitern, er spielt mit dieser Unsicherheit und dem Jetztzeitlichen, denn es kann jederzeit passieren, dass wir den Boden unter den Füßen verlieren. Die Brüder schreiben nicht übereinander, sondern mit sich – so entstehen Texte, die nicht heilen wollen, aber zeigen, wie Heilung beginnen kann. Indem sie den Nebel nicht vertreiben, sondern beschreiben und aus dem Nebel Leben schöpfen. Ein Wechselspiel zwischen Scheitern und Neuanfang. Der Band will eine Chance darstellen und ehrlich sein.
In „Nebel – Leben“ schaffen die Hattenberg-Brüder einen Lyrikzyklus, der weniger auf klassische Gedichtformen rekurriert als auf die Psychodynamik einfühlsamer, aber durchdringender Monologe. Die Texte wirken nicht geschrieben, sondern gehaucht, Schicht für Schicht auf-gebaut, mal verzweifelt, mal schreiend, dann rücksichtsvoller, nahezu zärtlich flüsternd – sie sind leidensfähig aber laut im Ton und im Sturz festgehalten. Ihre Grundstruktur ist nicht poetischer Bau, sondern allmähliche Auflösung innerer Grenzen und das Abtragen von Barrieren. Eine Grat-wanderung. Gedichte wie „Haus aus Haut und Winter“ oder „Zappenduster“ operieren und gehen voran mit Verdichtung von Bildern und körperlicher Verunsicherung:

           „mein Hals verstopft wie Überfälliges mich überfällt
           wie leer ich mich in diesem vollen Raum doch fühle“
 
Die Text- und Versstruktur ist hier nicht bloß Medium, sondern Symptomträger. Die Verse verhandeln Isolation, psychotrope Zustände, Auflösung des Selbst, weniger als Metapher, sondern mehr als Manifest, das sowohl die Zwänge sichtbar macht als auch Wege ihrer Überwindung aufzeigt.

Zentral ist die Wiederkehr des Topos „noch einmal um die Sonne“ – eine zyklische Formel, die sowohl Zeitbeschreibung als auch existenzieller Imperativ ist. Sie erscheint in variierenden Kontexten: als resignative Resignation („im Papierflieger noch einmal um die Sonne“), als selbstironische Hoffnung („geilstes Solarium“) oder als blinder Wiederholungs-zwang. Diese Formel wird zur Konstante, die sich der Linearität verweigert.

Der Band gliedert sich in Phasen, die sich jedoch nicht explizit markieren lassen – stattdessen sind es motivische Cluster: das Licht (oft als Kunstlicht, Neoneon, Künstlichkeit), der Körper (als Haut, als Exkremententräger, als Spiegel), die Zeit (Tick Tack, 23:59, 00:00, 00:01). In „Schattenjagd“ wird der Kreislauf beschrieben, aus dem kein Fortschritt resultiert:

           „im Kreis mit vollen und doch leeren Händen
           [...] Tick Tack Tick Tack“

Der Rhythmus wird hier zum Taktgeber einer Zeit, die nicht zu vergehen scheint, sondern sich sogar verdichtet. Das lyrische Ich existiert in diesen Texten nicht als souveräner Sprecher, sondern als getriebene Figur – immer am Rand, selten im Zentrum, fast nie im Besitz der Kontrolle. In „stell dich nicht so an“ wird die frühkindliche Anrufung in ihre neurotische Endform überführt:

           „rede ich mit andren rede ich mit euch
           [...] Bezugspersonen werden zu Entzugssymptomen“

Die lyrische Sprache ist dabei kein Ornament, sondern Verwandlung und Bruch – man denke an „Kunstlichtgott III“, das typographisch ausfranst und sprachlich in einen eruptiven, fast glossolalischen Zustand übergeht. Das ist kein Spiel, sondern eine Notation: Hier spricht das Nervensystem mit eigener Syntax.

Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Reflexion über Pathologisierung selbst. In „PräTBS“ und „chronisch“ wird nicht einfach ein Zustand beschrieben, sondern seine epistemologische Einbettung:

           „prätraumatische Belastung ich
           werde verstört von den Bildern“

           „eine internalisierte Religion
           der Depression die chronisch glaubt
           dass ich nicht an mich glaube“

Der psychologische Hintergrund der Autoren ist dabei nicht nur Hintergrund, sondern ein lyrisches Prinzip: Der Text wird zur Praxis. Die Gedichte therapieren nicht, sie exponieren. Sie machen den Raum auf, in dem überhaupt eine Sprache für das Unaussprechbare entsteht.

Diese Sprache ist nicht affirmativ. Sie ist keine Genesung, sondern ein Gehen über Geröll. Doch gerade im letzten Drittel des Bandes verschieben sich die Vektoren: In „00:01“ wird aus der Dämmerung ein Morgen. Aus dem „Haus aus Haut und Winter“ wird ein Ort des Aufbruchs:

           „ich heiße endlich ich im Aufgang laut
           zerfließe ich umarmt von meinem Namen“

Auch das ist kein Happy End, sondern eine Zäsur. Eine Wendung, die nicht das Leid verneint, sondern dessen Richtung umkehrt.

Die Satzstrukturen sind häufig parataktisch, manchmal nahezu agrammatisch, oft eruptiv unterbrochen. In „Fragezeichen“ zum Beispiel zerfällt ein vollständiger Satz in seine Konjunktive, Modalpartikel und Pronomina:

           „vielleicht und oder aber ob
           wenn überhaupt vielleicht
           auch nicht mein Hin und Her
           kennt Für und Wider [...]
           warum warum WARUM war
           um warum warum warum“

Der Text simuliert keinen Gedankenfluss, er ist einer: zerlegt, tastend und bohrend. Die Syntax folgt keiner rhetorischen Zuordnung, sondern dem affektiven Verlauf. Das Aufsplittern der Syntax verweigert sich der Stabilität der Semantik und verweist stattdessen auf einen Zustand: die Abwesenheit von Linearität, die Schwierigkeit, sich selbst klar zu begegnen und die Herausforderungen, ein zusammenhängendes Selbstgefühl zu bewahren.

Zahlreiche Gedichte arbeiten mit Wiederholungen, sei es klanglich, syntaktisch oder semantisch. Diese Redundanzen sind nicht emphatisch zu verstehen, sondern markieren oder imitieren innerpsychische Zwänge. In „Kunstlichtgott II“:

           „an aus an aus an aus an an an“

Und in „nichtig“ die maximal gesteigerte Form der Verneinung – über dutzende Zeilen hinweg:

           „nicht nicht nicht nicht nicht nicht [...] ich nicht nicht nicht“

Diese Repetitivität imitiert nicht nur Zwänge, sondern erzeugt Akustik, die Frage nach dem Sinn, das Wiederholen der immer gleichen Muster, in denen Bedeutung in Rhythmus übergeht. Der Text wird zu einem Klangsaal, dessen Funktion nicht nur Mitteilung, sondern auch Darstellung von innerer Permanenz ist. Das Festklammern an vertraute Sicherheit.

Die Interpunktion ist inkonsistent, oft gänzlich abwesend, gelegentlich absichtlich falsch oder umfunktioniert. Das semantische Gewicht verschiebt sich dadurch auf Pausen, Zäsuren oder will Leerräume schaffen. In „Statuen blicken gradeaus“ wird die visuelle Achse selbst Teil des Gedichts:

           „du wirst dich noch umgucken
           wenn dein Pfad aus Stein
           wie Glas zer
           b
           r
           ich
           t“

Das „Ich“ wird als Ganzes im Bruch ausgeschrieben. Es zerfällt, bleibt aber standfest als Entität.

Die Verszeile zerbröselt um das „ich“ herum, der Text performt, was er beschreibt. Die Typografie wird Semantik, zu einem Tool. Der Bruch, das Zerbrechen, ist nicht Thema, sondern Vollzug. Die Schrift selbst wird Figur, nicht Repräsentant, sondern Akt.

Die Metaphern sind körperlich, oft düster mit Rissen aus Licht. Es sind Verse, die durch Verschiebung neue Funktion gewinnen: „Tick Tack Tick Tack“, „Papierflieger“, „Haus aus Haut“, „Porzellanpupille“. Diese Wortbildungen erzeugen Zwischenräume für Gefühle, die sich nur schwer ausdrücken lassen – semantisch nicht fixierbar, aber affektiv eindeutig. In „Kasernenrunde“ heißt es:

           „wer läuft der denkt nicht und wer
           zu viel denkt der läuft nicht schnell genug“

Hier übernimmt die Paradoxie eine strategische Funktion: Sie entlarvt ein System (militärisch, gesellschaftlich, psychisch), das Handlung über Reflexion stellt. Die Sprache hat keinen Abschluss, sondern ein Echo. Diese Echohaftigkeit – formal wie semantisch – ist eine durchgängige rhetorische Figur.

In vielen Gedichten tritt ein Stimmenwechsel auf – etwa zwischen Kindheitssprache, autoritärem Ton, innerem Monolog und adressierter Rede. „stell dich nicht so an“ enthält Passagen wie:

           „rede ich mit andren rede ich mit euch
           [...] da da da da da
           gu gu
           aua“

Der Text inszeniert eine regressiv gebrochene Stimme, eine intensive Dialogizität, die nicht mehr zwischen Sprecher und Adressat unterscheidet. Der Verlust der sprechenden Autorität wird nicht kaschiert, sondern durch Sprache performativ geschaffen, regelrecht zwischen den Zeilen herausgeschnitten.

Aufgefallen ist mir das latente Motiv des Papierfliegers als eine Art heimliche Strukturachse. Der Papierflieger ist kein ordinäres Bild unter anderen. Er erscheint mehrfach an ent-scheidenden Schnittstellen und funktioniert als inhaltlich-strukturelle Chiffre des gesamten Bandes: für die Ambivalenz zwischen Aufbruch und Absturz, zwischen Kindheit und Kontrollverlust, zwischen Leichtigkeit und Zerfall. Die erste Nennung findet sich im Gedicht „23:59“ auf Seite 12.

           „im Papierflieger noch einmal um die Sonne“

Hier ist der Papierflieger noch ein utopisches und recht vages Bild: Bewegung, Leichtigkeit, Kindlichkeit; ein letzter Versuch vor Mitternacht. Der Flug ist hier noch möglich, obwohl bereits ein „Blindflug“ angedeutet wird.

Auf Seite 40 folgt die zweite Erwähnung im Gedicht „00:00“:

           „im Papierflieger noch einmal um die Sonne /
           Absturz in die Gräber meiner Narbengräben“

Nur eine Seite weiter folgt der semantische Kollaps: Der Flugtraum scheitert. Der Papierflieger wird zur Chiffre für Wiederholung und Unterordnung. Wiederholung wird zum Absturz. Es ist der Moment, in dem der Zyklus kippt – von Sehnsucht zu Resignation. Die Uhr springt auf Null.

           „...es dauerte ein ganzes Leben um mein Leben zu beginnen /
           im Papierflieger noch einmal um die Sonne“

Der Flug wiederholt sich, doch jetzt im Modus der Rückgewinnung. Der „Papierflieger“ ist nicht mehr Kindheitsmetapher oder Fluchtmittel, nicht nur langsame Trägheit und Losgelöstheit, sondern eine fragile Möglichkeit der Rückkehr: zur Sprache, zum Wort, zur Identität, zur Autorenschaft. Es ist ein Flug, der anscheinend nicht richtig ankommen möchte, sich aber weigert, endgültig zu stürzen.

Der Band spricht von der Entwicklung von Hoffnung, über Absturz und darauffolgende Regeneration. Vielleicht ist der Flieger ein Symbol für das Leben selbst, die Wege, die wir gehen, stets imperfekt, drohend abzustürzen und doch immer in der Lage zu fliegen. Der Band ist erschöpfend und erschöpfend ehrlich. Die Gedichte wirken, als hätten die Hattenberg-Brüder einen direkten Zugang zu einer Sprache gefunden, die nicht nur auf kunstvolle Weise die seelischen Sturzfluten beschreibt, sondern diese Gefühle erleben und durchleben lässt. Manchmal fühlte es sich an, als spräche ich selbst, als würde mir ein Spiegel vorgehalten, in dem ich meine eigenen Brüche und Hoffnungen erkenne. Und das ist schmerzhaft, aber gleichzeitig befreiend. Es macht deutlich, dass Leid kein isolierter Zustand ist, sondern eine Verbindung schaffen kann.

Dieser Band ist nicht bequem! Ich musste mich den Texten stellen, genauso wie ich mich mir selbst stellen musste. Doch genau das war es, was mich am Ende tief berührt hat: die Ehrlichkeit, die Klarheit und die Bereitschaft, aus dem Nebel heraus Leben entstehen zu lassen. Die Wiederkehr des Papierfliegers hat mich besonders bewegt, als Bild einer fragilen Hoffnung, die auch dann besteht, wenn alles um uns herum zerbricht. Gerade dieser Gedanke hat mich nachhaltig beschäftigt und tröstet mich auch jetzt noch: Wir dürfen zerfallen, wir dürfen zweifeln; es ist manchmal wichtig aufzugeben, und dennoch können wir immer wieder aufbrechen und erneut versuchen zu fliegen. Er ist unbequem, ja, er ist aber auch Hoffnung.


Freitag, 11. April 2025

11.04.25 Rezension zu "Atemopale" von Patrick Schild bei den "Signaturen"

 
Eine Rezension zum 2024er Hanns-Meinke-Preisträger Patrick Schild von Matthias Schramm beim Signaturen-Magazin:

link:  Signaturen-Magazin: Patrick Schild: Atemopale

 
Matthias Schramm:

Patrick Schild: Atemopale. Gedichte. Berlin (
Verlag der 9 Reiche) 2024. 32 Seiten. 9,00 Euro. ISBN 978-3-948999-29-2


Zum Lyrik-Debüt von Patrick Schild


Patrick Schild, geboren 1994 in Daun / Eifel, hat sich in den letzten Jahren als eine Stimme der jungen deutschsprachigen Lyrik etabliert. Seine Gedichte erschienen zunächst in verschiedenen Anthologien und renommierten Literaturzeitschriften, es folgte 2021 der Förderpreis der Gruppe 48, anschließend wurde ihm 2022 der Klopstock-Preis für junge Lyrik verliehen. 2024 folgte mit dem Hanns-Meinke-Preis eine weitere Auszeichnung, die den Verlag der 9 Reiche veranlasste, seinen Debütband Atemopale in der Reihe der Lyrik-Edition NEUN zu veröffentlichen. Ende 2024 gewann er den 1. Preis für Lyrik beim Land-schreiberwettbewerb.

Schilds Debütband Atemopale entfaltet sich in behutsamen, aber auch radikalen Bewegungen, deren Wirkung aus dem Kontrast zwischen einer beinahe unerträglichen inneren Intensität und einer formalen Zurückhaltung entsteht.

Die in der Reihe der Lyrik-Edition NEUN erschienene Sammlung von Schild, herausgegeben von Steffen Marciniak, offenbart eine Sprache, die von Brüchen geprägt ist, die nicht lediglich ästhetisches Beiwerk sind, sondern vielmehr Ausdruck einer tiefen existenziellen Unruhe, welche den Leser behutsam, doch unnachgiebig in ein Territorium der Verletzlichkeit führt.

Schilds Atemopale zeugen sich in Bewegungen, deren Spannkraft aus einem Kontrast zwischen Intensität und formaler Zurückhaltung entsteht. Charakteristisch ist die frag-mentierte Sprache, die durch reduzierte Satzzeichen einen kontinuierlichen, oft atemlosen Sprachfluss erzeugt, welcher die Erfahrung des Atmens in Sprache übersetzt. Gedichte wie „[anhaften]“ zeigen, wie Sprache hier zu einer körperlichen Erfahrung wird – verlangsamend und bewusstseinsbildend.

Ein für mich nettes Detail findet sich im Gedicht „[maskulin]“, in welchem das lyrische Ich als „wort-gerinnsel“ beschrieben wird. Dieses scheinbar beiläufige Bild offenbart sich bei genauer Betrachtung als Metapher für die Stockungen und Verknotungen im kreativen Prozess des Schreibens selbst – ein Prozess, der ebenso körperlich wie geistig empfunden wird; aber auch in der Zerstreuung und in der Emphase des Duktus wiederzufinden ist.
  
Einer der markantesten Zyklen dieses Bandes, Narbenkartographie, etabliert bereits früh eine Grund-haltung des Lyrischen Ichs, die sich durch ein permanentes Changieren zwischen dem Körperlichen und dem Transzendenten, dem schmerzhaft Individuellen und dem Universellen auszeichnet. In „[wir]“ etwa spricht Schild von einer „mit leere angereicherten form eines bildes“, die gleichzeitig eine zärtliche und altersschwache Vergänglich-keit beschwört, und dabei deutlich macht, wie körperliche Fragilität und seelische Präsenz ineinander übergehen. Im Gedicht „[emblematisch]“ wird die Verbindung von physischer Verletzung und psychischer Erfahrung ebenfalls deutlich, wenn das lyrische Ich „ein knoten [...] vom blühen“ ist, „ein blutender wald“, womit die enge Verzahnung von Körper und Seele metaphorisch eindringlich hervorgehoben wird. Schilds Verse erscheinen somit als tastende Versuche, Identität durch Wunden und Vernarbungen zu lokalisieren und zeigen eindrücklich, wie stark die physische Präsenz und ihre Versehrtheit an die Seele gebunden sind.
Diese metaphorische nahezu religiöse Loslösung wird weitergeführt durch die Referenz zur „narziss-haus-schnecke“, „die „sich in sich selber antrifft“ – ein subtiles Bild für das Verschlossensein in sich selbst, für eine Rückkehr ins Innerste, die in ihrer Radikalität tödliche Züge annehmen kann. Schilds Sprache erzeugt hier bewusst eine fragile Balance zwischen Schönheit und Schrecken, zwischen sanfter Berührung und bitterer Konsequenz. Das „phonische zittern“ der „feiner, feinster fasern“ sowie die „leis erzitternden blumen“ evozieren eine zugleich intime und letztendlich beunruhigende Atmosphäre, die sich in der finalen, flüchtigen Geste auflöst: „schreiben wir unsere flüchtigen namen ins dunkelnde herz“ – ein Akt der Selbstauflösung, der auch als Selbstabschied gelesen werden kann, eine Art selbstzerstörerische Poesie.

Doch Schilds Lyrik erschöpft sich keineswegs in der Düsternis möglicher Interpretationen. Sie entfaltet vielmehr eine bemerkenswerte Fähigkeit, den Leser in einer Zwischenwelt zu verorten, in der Sinnlichkeit und Vergeistigung, die brutale Wirklichkeit des Körperlichen und die Zerbrechlichkeit des Geistes in ständiger Spannung stehen. Dies zeigt sich auch in anderen Gedichten des Bandes wie „[maskulin]“ oder „[fröstelnd]“, in denen das Motiv der Verletzlichkeit und der fragmentierten Identität erneut in schmerzhafter Klarheit hervortritt. Für mich auffällig ist die Technik, die Schild hier beweist. Er greift in seinem Sprachfluss wohl eher unbewusst auf erweiterte Reimregeln zurück; verlässt das Metrum, lässt es aber frei fließen, in seinem ganz eigenen Ton.

Kennzeichnend für Schilds Gedichte ist eine radikale Reduktion von Satzzeichen und die Verwendung von Einrückungen, die sich – gerade im ersten Zyklus – dem klassischen Sonett annähern. Die Gedichte wirken wie ein kontinuierlicher Atemzug, manchmal stockend, zuweilen beschleunigend, ganz als wollten sie die Erfahrung des Atmens in Sprache übersetzen. So entstehen Texte, die als körperliches Erleben wirken und eine verlangsamte, bewusstere Lesart erzwingen. Die Verse schaffen eine Textur, die körperlich erfahrbar wird, vergleichbar mit einem atmenden Organismus.

Die Verbindung von Atem und Opal deutet auf einen Kernaspekt: den Versuch, eine Sprache für das kaum Sagbare zu finden. Schild nutzt Erinnerungsfragmente und Schweigezonen, um seine Gedichte zu konstruieren, wodurch eine Spannung entsteht, die zwischen Präsenz und Abwesenheit pendelt.

Im ersten Teil des Bandes dominieren Fragmente und eine grammatische Auflösung, die ein ungefiltertes Bewusstseinsfeld erzeugen. Das Gedicht „[anhaften]“ ist dafür beispielhaft:

„ein gewebe aus luft
ein mandala
ein entwurf aus wenigen strichen
wie die bewegten u. noch grünen flanken der hügel —
als wir — zornige kinder — dem leben anhafteten“

Neben der offensichtlichen Lesart einer kindlichen Wut und existentieller Anspannung öffnet der Text subtil auch eine Lesart, die sich mit dem Thema Suizid auseinandersetzt. Die Metapher des Mandalas, das traditionell für Ganzheit und Heilung steht, wirkt hier ironisch gebrochen: Wenige Striche, ein kaum sichtbares Gewebe aus Luft – es könnte ein Hinweis auf die dünne Trennlinie zwischen Lebenswillen und Selbstaufgabe sein. Zunächst wirkt die Bildsprache eben wie ein Mandala, doch entfaltet sich beim tieferen Lesen eine Reflexion über Suizid. Schild spricht von einer „kurzen, schmerzlosen lösung des kummers“ und einer Existenz, die „zuinnerst gelöst u. frei schwebend“ ist, eine Metapher für den Wunsch nach Erlösung vom Schmerz. Die Balance zwischen Schönheit und Schrecken entfaltet eine intime und verstörende Wirkung, etwa in Gedichten im Zyklus Ruinenengel wie „Vater“:

„Der Keller des Hauses ist wach
und schleicht sich langsam auf Zehenspitzen
die knarrende Treppe hinauf.
Die knarrende Treppe der Biographie
an deren Ende das Zimmer der Erinnerung liegt.“

Schild beschreibt familiäre Traumata, die subtil, jedoch erschütternd wirken, wie etwa die „erschrockene Fledermaus“, die „in eine Nische floh“ oder die Bedrohlichkeit des Vaters, dessen Präsenz bedrückend gezeichnet ist. Gleichzeitig eröffnet Schild grundlegende Reflexionen über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit.

Der kindliche Zorn kann ebenso als Ausdruck eines tieferliegenden Identitätsschmerzes interpretiert werden, einer existenziellen Unsicherheit, die das Ich zwischen Lebensdrang und Verzweiflung pendeln lässt. Schild spielt hier klug mit philosophischen Fragestellungen zur Existenz und Identität, ohne jemals ins bloße Gedankenspiel zu verfallen.

Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit einer dysfunktionalen Familienstruktur, deren Wunden in Gedichten wie „Engel“ offenliegen. Das lyrische Ich beschreibt etwa, wie „die Seele wie eine erschrockene Fledermaus in eine Nische floh“ – eine Metapher, die das Verschwinden des Selbst vor der emotionalen Gewalt familiärer Beziehungen illustriert. Ähnlich drastisch erscheint der Vater als bedrückendes Zentrum der Erinnerung, wenn im Gedicht „Vater“ formuliert wird: „Der Keller des Hauses ist wach und schleicht sich langsam auf Zehenspitzen die knarrende Treppe hinauf“ – hier evoziert Schild meisterhaft das Bild einer subtilen, doch unerbittlichen Bedrohung. Besonders ist Schilds Umgang mit sprachlichen Strukturen. Nicht allein individuelle oder familiäre Zerwürfnisse werden behandelt, vielmehr eröffnet Schild grundlegende Reflexionen über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. So hinterfragt das Gedicht „[emblematisch]“ pointiert die Möglichkeit sprachlicher Erfassung von Welt: „verwöhnt mich ihr Nektar mit Schmerzen?“, eine Frage, die an Paul Celans poetologische Zweifel erinnert und Schild in eine Traditionslinie sprachkritischer Dichter stellt.



Rezension zum neuen Lyrikband von Patrick Hattenberg

   Matthias Schramm Kevin & Patrick Hattenberg:  Nebel Leben. Gedichte.  Berlin (PalmArtPress) 2025.  110 Seiten.   link zur Rezension: ...