Freitag, 11. April 2025

11.04.25 Rezension zu "Atemopale" von Patrick Schild bei den "Signaturen"

 
Eine Rezension zum 2024er Hanns-Meinke-Preisträger Patrick Schild von Matthias Schramm beim Signaturen-Magazin:

link:  Signaturen-Magazin: Patrick Schild: Atemopale

 
Matthias Schramm:

Patrick Schild: Atemopale. Gedichte. Berlin (
Verlag der 9 Reiche) 2024. 32 Seiten. 9,00 Euro. ISBN 978-3-948999-29-2


Zum Lyrik-Debüt von Patrick Schild


Patrick Schild, geboren 1994 in Daun / Eifel, hat sich in den letzten Jahren als eine Stimme der jungen deutschsprachigen Lyrik etabliert. Seine Gedichte erschienen zunächst in verschiedenen Anthologien und renommierten Literaturzeitschriften, es folgte 2021 der Förderpreis der Gruppe 48, anschließend wurde ihm 2022 der Klopstock-Preis für junge Lyrik verliehen. 2024 folgte mit dem Hanns-Meinke-Preis eine weitere Auszeichnung, die den Verlag der 9 Reiche veranlasste, seinen Debütband Atemopale in der Reihe der Lyrik-Edition NEUN zu veröffentlichen. Ende 2024 gewann er den 1. Preis für Lyrik beim Land-schreiberwettbewerb.

Schilds Debütband Atemopale entfaltet sich in behutsamen, aber auch radikalen Bewegungen, deren Wirkung aus dem Kontrast zwischen einer beinahe unerträglichen inneren Intensität und einer formalen Zurückhaltung entsteht.

Die in der Reihe der Lyrik-Edition NEUN erschienene Sammlung von Schild, herausgegeben von Steffen Marciniak, offenbart eine Sprache, die von Brüchen geprägt ist, die nicht lediglich ästhetisches Beiwerk sind, sondern vielmehr Ausdruck einer tiefen existenziellen Unruhe, welche den Leser behutsam, doch unnachgiebig in ein Territorium der Verletzlichkeit führt.

Schilds Atemopale zeugen sich in Bewegungen, deren Spannkraft aus einem Kontrast zwischen Intensität und formaler Zurückhaltung entsteht. Charakteristisch ist die frag-mentierte Sprache, die durch reduzierte Satzzeichen einen kontinuierlichen, oft atemlosen Sprachfluss erzeugt, welcher die Erfahrung des Atmens in Sprache übersetzt. Gedichte wie „[anhaften]“ zeigen, wie Sprache hier zu einer körperlichen Erfahrung wird – verlangsamend und bewusstseinsbildend.

Ein für mich nettes Detail findet sich im Gedicht „[maskulin]“, in welchem das lyrische Ich als „wort-gerinnsel“ beschrieben wird. Dieses scheinbar beiläufige Bild offenbart sich bei genauer Betrachtung als Metapher für die Stockungen und Verknotungen im kreativen Prozess des Schreibens selbst – ein Prozess, der ebenso körperlich wie geistig empfunden wird; aber auch in der Zerstreuung und in der Emphase des Duktus wiederzufinden ist.
  
Einer der markantesten Zyklen dieses Bandes, Narbenkartographie, etabliert bereits früh eine Grund-haltung des Lyrischen Ichs, die sich durch ein permanentes Changieren zwischen dem Körperlichen und dem Transzendenten, dem schmerzhaft Individuellen und dem Universellen auszeichnet. In „[wir]“ etwa spricht Schild von einer „mit leere angereicherten form eines bildes“, die gleichzeitig eine zärtliche und altersschwache Vergänglich-keit beschwört, und dabei deutlich macht, wie körperliche Fragilität und seelische Präsenz ineinander übergehen. Im Gedicht „[emblematisch]“ wird die Verbindung von physischer Verletzung und psychischer Erfahrung ebenfalls deutlich, wenn das lyrische Ich „ein knoten [...] vom blühen“ ist, „ein blutender wald“, womit die enge Verzahnung von Körper und Seele metaphorisch eindringlich hervorgehoben wird. Schilds Verse erscheinen somit als tastende Versuche, Identität durch Wunden und Vernarbungen zu lokalisieren und zeigen eindrücklich, wie stark die physische Präsenz und ihre Versehrtheit an die Seele gebunden sind.
Diese metaphorische nahezu religiöse Loslösung wird weitergeführt durch die Referenz zur „narziss-haus-schnecke“, „die „sich in sich selber antrifft“ – ein subtiles Bild für das Verschlossensein in sich selbst, für eine Rückkehr ins Innerste, die in ihrer Radikalität tödliche Züge annehmen kann. Schilds Sprache erzeugt hier bewusst eine fragile Balance zwischen Schönheit und Schrecken, zwischen sanfter Berührung und bitterer Konsequenz. Das „phonische zittern“ der „feiner, feinster fasern“ sowie die „leis erzitternden blumen“ evozieren eine zugleich intime und letztendlich beunruhigende Atmosphäre, die sich in der finalen, flüchtigen Geste auflöst: „schreiben wir unsere flüchtigen namen ins dunkelnde herz“ – ein Akt der Selbstauflösung, der auch als Selbstabschied gelesen werden kann, eine Art selbstzerstörerische Poesie.

Doch Schilds Lyrik erschöpft sich keineswegs in der Düsternis möglicher Interpretationen. Sie entfaltet vielmehr eine bemerkenswerte Fähigkeit, den Leser in einer Zwischenwelt zu verorten, in der Sinnlichkeit und Vergeistigung, die brutale Wirklichkeit des Körperlichen und die Zerbrechlichkeit des Geistes in ständiger Spannung stehen. Dies zeigt sich auch in anderen Gedichten des Bandes wie „[maskulin]“ oder „[fröstelnd]“, in denen das Motiv der Verletzlichkeit und der fragmentierten Identität erneut in schmerzhafter Klarheit hervortritt. Für mich auffällig ist die Technik, die Schild hier beweist. Er greift in seinem Sprachfluss wohl eher unbewusst auf erweiterte Reimregeln zurück; verlässt das Metrum, lässt es aber frei fließen, in seinem ganz eigenen Ton.

Kennzeichnend für Schilds Gedichte ist eine radikale Reduktion von Satzzeichen und die Verwendung von Einrückungen, die sich – gerade im ersten Zyklus – dem klassischen Sonett annähern. Die Gedichte wirken wie ein kontinuierlicher Atemzug, manchmal stockend, zuweilen beschleunigend, ganz als wollten sie die Erfahrung des Atmens in Sprache übersetzen. So entstehen Texte, die als körperliches Erleben wirken und eine verlangsamte, bewusstere Lesart erzwingen. Die Verse schaffen eine Textur, die körperlich erfahrbar wird, vergleichbar mit einem atmenden Organismus.

Die Verbindung von Atem und Opal deutet auf einen Kernaspekt: den Versuch, eine Sprache für das kaum Sagbare zu finden. Schild nutzt Erinnerungsfragmente und Schweigezonen, um seine Gedichte zu konstruieren, wodurch eine Spannung entsteht, die zwischen Präsenz und Abwesenheit pendelt.

Im ersten Teil des Bandes dominieren Fragmente und eine grammatische Auflösung, die ein ungefiltertes Bewusstseinsfeld erzeugen. Das Gedicht „[anhaften]“ ist dafür beispielhaft:

„ein gewebe aus luft
ein mandala
ein entwurf aus wenigen strichen
wie die bewegten u. noch grünen flanken der hügel —
als wir — zornige kinder — dem leben anhafteten“

Neben der offensichtlichen Lesart einer kindlichen Wut und existentieller Anspannung öffnet der Text subtil auch eine Lesart, die sich mit dem Thema Suizid auseinandersetzt. Die Metapher des Mandalas, das traditionell für Ganzheit und Heilung steht, wirkt hier ironisch gebrochen: Wenige Striche, ein kaum sichtbares Gewebe aus Luft – es könnte ein Hinweis auf die dünne Trennlinie zwischen Lebenswillen und Selbstaufgabe sein. Zunächst wirkt die Bildsprache eben wie ein Mandala, doch entfaltet sich beim tieferen Lesen eine Reflexion über Suizid. Schild spricht von einer „kurzen, schmerzlosen lösung des kummers“ und einer Existenz, die „zuinnerst gelöst u. frei schwebend“ ist, eine Metapher für den Wunsch nach Erlösung vom Schmerz. Die Balance zwischen Schönheit und Schrecken entfaltet eine intime und verstörende Wirkung, etwa in Gedichten im Zyklus Ruinenengel wie „Vater“:

„Der Keller des Hauses ist wach
und schleicht sich langsam auf Zehenspitzen
die knarrende Treppe hinauf.
Die knarrende Treppe der Biographie
an deren Ende das Zimmer der Erinnerung liegt.“

Schild beschreibt familiäre Traumata, die subtil, jedoch erschütternd wirken, wie etwa die „erschrockene Fledermaus“, die „in eine Nische floh“ oder die Bedrohlichkeit des Vaters, dessen Präsenz bedrückend gezeichnet ist. Gleichzeitig eröffnet Schild grundlegende Reflexionen über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit.

Der kindliche Zorn kann ebenso als Ausdruck eines tieferliegenden Identitätsschmerzes interpretiert werden, einer existenziellen Unsicherheit, die das Ich zwischen Lebensdrang und Verzweiflung pendeln lässt. Schild spielt hier klug mit philosophischen Fragestellungen zur Existenz und Identität, ohne jemals ins bloße Gedankenspiel zu verfallen.

Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit einer dysfunktionalen Familienstruktur, deren Wunden in Gedichten wie „Engel“ offenliegen. Das lyrische Ich beschreibt etwa, wie „die Seele wie eine erschrockene Fledermaus in eine Nische floh“ – eine Metapher, die das Verschwinden des Selbst vor der emotionalen Gewalt familiärer Beziehungen illustriert. Ähnlich drastisch erscheint der Vater als bedrückendes Zentrum der Erinnerung, wenn im Gedicht „Vater“ formuliert wird: „Der Keller des Hauses ist wach und schleicht sich langsam auf Zehenspitzen die knarrende Treppe hinauf“ – hier evoziert Schild meisterhaft das Bild einer subtilen, doch unerbittlichen Bedrohung. Besonders ist Schilds Umgang mit sprachlichen Strukturen. Nicht allein individuelle oder familiäre Zerwürfnisse werden behandelt, vielmehr eröffnet Schild grundlegende Reflexionen über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. So hinterfragt das Gedicht „[emblematisch]“ pointiert die Möglichkeit sprachlicher Erfassung von Welt: „verwöhnt mich ihr Nektar mit Schmerzen?“, eine Frage, die an Paul Celans poetologische Zweifel erinnert und Schild in eine Traditionslinie sprachkritischer Dichter stellt.



Donnerstag, 13. März 2025

Donnerstag, 30. Januar 2025

Rezension auf "Lyrikkritik" zu Patrick Schilds "Atemopale"

 

Auf Lyrikkritik verfasste Florian Birnmeyer eine Rezension zu zwei im Jahr 2024 erschienenen Gedichtbänden, darunter ist "Atemopale" des Hanns-Meinke-Preisträgers Patrick Schild:

 „Atemopale“ von Patrick Schild 

 

– Kurzkritik –

Patrick Schild: Atemopale

Ein weiterer interessanter Gedichtband  eines kleineren Verlags stammt von dem noch jüngeren Autor Patrick Schild. Für sein Debüt Atemopale erhielt der 29-jährige Lyriker den Klopstockpreis für junge Lyrik und den 6. Hanns-Meinke-Preis für junge Lyrik. Der aus der Eifel stammende und bei Aachen lebende Autor veröffentlichte den Band in der Reihe Lyrik Edition NEUN des Verlags der 9 Reiche.

Wie in dieser Reihe üblich, gliedert sich Atemopale in drei Zyklen mit jeweils neun Gedichten: Narbenkartographie, Ruinenengel und Atemopale. Die Linolschnitte, die den Band illustrieren, stammen von dem Dresdner Künstler Steffen Büchner.

Der Titel Atemopale klingt anziehend und zugleich geheimnisvoll. Die Verbindung vom existentiellen „Atem“ mit der Welt der Edelsteine und Minerale lässt dabei Raum für Interpretationen.

Schilds Band beginnt im ersten Kapitel mit seinen jüngsten Gedichten, durchweg kleingeschriebenen Texten, in denen er mit Sprache, Form und grafischer Gestaltung, zum Beispiel mit eckigen Klammern oder Gedankenstrichen, experimentiert und dabei eine vielschichtige Innenschau des sprechenden Ichs zu erzeugen vermag.

ein gewebe aus luft
ein mandala
ein entwurf aus wenigen strichen
wie die bewegten u. noch grünen flanken der hügel
als wir —zornige kinder —dem leben anhafteten …

(aus: [anhaften])

Einige Gedichte sind im Blocksatz gestaltet, erinnern an konkrete Poesie und verstärken den visuellen Eindruck:

  was suche ich eigentlich? :

  blickfang blickfang blickfang
  blickfang blickfang blickfang
  blickfang blickfang blickfang
  blickfang blickfang blickfang
  blickfang       mich    blickfang
  blickfang blickfang blickfang

(aus: [hab dich, optisch, haptisch])

Im zweiten Zyklus Ruinenengel, der ältere Gedichte enthält, kehrt Schild zur traditionellen. Groß- und Kleinschreibung zurück und seine Gedichte wirken insgesamt autobiografischer und weltgesättigter, weniger von der Form getrieben. Dabei verwebt er ungewöhnliche Metaphern mit schmerzhaften Erfahrungen, wie der Krankheit des Vaters. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Farbe Rot, zum Beispiel in Form der Rose, die auch auf dem Cover aufgegriffen wird. Im zweiten Zyklus wird der trennende Gedankenstrich durch einen Punkt ersetzt.

Die Rose die
das Licht mit dem Gehäuse
ihrer Uhr einfasst.
Später der langsame
Lidschlag der Sterne über
der mit Krach
​gepflasterten Stadt.
Ich wünsche mir
das dunkle Gold des Verstummens
im Mohn
einer Freundschaft.

(aus: Freundschaft)

Je weiter der Band fortschreitet, desto weniger experimentell wird die Dichtung. Der dritte Zyklus Atemopale, der dem Debütband seinen Titel verleiht, enthält eine Sammlung verschiedener Gedichte, die aus der frühesten Schaffensperiode stammt. Die darin versammelten Gedichte vereinen sowohl biographische Elemente aus dem zweiten Zyklus (Vater, Großvater) als auch die bereits bekannten Bilder (Vogel, Rose, Mohn, Krähe).

Zuweilen mag die Vielfalt der verwendeten sprachlichen Mittel als uneinheitlich empfunden werden, doch gerade darin liegt die Stärke des Bandes – und der gesamten Lyrik Edition NEUN, die Raum für mutige Debüts bietet.

Florian Birnmeyer

 

Hier der link zu:  Lyrikkritik  - mit den beiden Rezensionen zu Patrick Schild und Fabian Lenthe.

 


 

Montag, 20. Januar 2025

Instagram-Rezension zu Gabriel Wolkenfelds "Waldalb"

 

Michael Georg Bregel auf Instagram zu Gabriel Wolkenfelds Neuerscheinung "Waldalb"

 

Ein lyrischer Alb spukt kreativ durch Deutschland. Und dieser stets freundliche Naturgeist des gepflegten Wortes ist Gabriel Wolkenfeld selbst. Nach Gedichtbänden, in denen er die ihm ebenfalls bestens bekannten Eigenheiten Israels und der Ukraine näherbrachte, treibt der Berliner Autor diesmal hierzulande sein Wesen. Und man folgt ihm gern durch Spreewald, Thüringer Wald und Harz, nach Hamburg, Leipzig, Potsdam und München. Denn dankenswerterweise versucht Wolkenfeld gar nicht erst, 'das ganze Deutschland' abzubilden. Er ist bei den Stationen seiner literarischen Wanderung zwar höchst vielfältig, nimmt aber ausschließlich an Orte, in Gegenden und Städte mit, die er deutlich intimer als nur auf der Durchreise oder beim Gelegenheitsspuk kennengelernt hat. Was zu einem derart kenntnis-, detail- und anspielungsreichen Leseerlebnis führt, dass ich mich immer wieder mit einem Auge am Gedicht und mit dem anderen auf Wikipedia ertappt habe. Und obzwar stilistisch etwas anders unterwegs als bei seinen vorherigen Länder-Bänden, bleibt Gabriel Wolkenfeld dabei stets in seiner sehr eigenen, unverkennbaren Sprache. Spannende Gedichte, Aha-Such- und Findespaß, also ordentlich was zum mit Literatur spielen - so überraschend und lecker kann Lyrik sein. Welches Land sich der Meister wohl als Nächstes vornimmt?

Michael Georg Bregel

Samstag, 18. Januar 2025

Rezension auf Lyrikkritik zu Şafak Sarıçiçeks "Wasserstätten"

 

Über Schatten springen

 Gedanken zu Şafak Sarıçiçeks Gedicht Der Rotationsmitarbeiter

  
von Leonie Köhler, Lyrikkritikakademie bei Lyrikkritik
 
Link zu:  Lyrikkritik - Rezension

Im September 2023 wurde der Hans-Meinke-Preises für junge Lyrik im Berliner Lessinghaus an Şafak Sarıçiçek verliehen. Da der erste Platz mit der Publikation eines Gedichtbandes im Verlag der neun Reiche verbunden ist, konnte das Publikum bei einer Lesung Einblicke in das brandneue Werk Wasserstätten des Heidelberger Lyrikers gewinnen. Das Gedicht Der Rotationsmitarbeiter steht im Kontext einer Folge an Texten, die sich mit Arbeitsverhältnissen beschäftigen: Sie heißen beispielsweise Der Brater, Der Verkäufer, Der Leiharbeiter, Der Spüler und stellen durch ein gemeinsames Motiv den Bezug zum Titel des Bandes her: Dem Wassertier, das in immer neuen Variationen auftritt und sich als Meeresfrucht, Mollusk oder Tintenfisch in den Texten tummelt. Besonders häufig aber wird der Fisch genannt, er spielt in allen oben genannten Gedichten eine Rolle. Er wird frittiert, mit Pommes als Fish ’n Chips über die Theke gereicht, in Panade gewälzt, als Fischstäbchen verspeist und in reichlich Fett gebraten, bis die Remoulade förmlich zwischen den Buchstaben hervorquillt und die Trostlosigkeit der dargestellten Verhältnisse aus den fettigen Bratdünsten hervortritt. Das Meer, seit der Romantik eine Metapher für das, was den menschlichen Horizont übersteigt, schrumpft im Kontext von Lohnarbeit, Dienstleistung und Konsum auf die Dimension des Verwertbaren zusammen.

Überläufer wechselwarm
tänzelnder Fisch im Kittel
Kitt so sehr Kitt
kompartmentalisiert

eifrig überlaufend
zwischen Türen mollusk
mein schizophrener Umriss

Die ersten beiden Strophen von Der Rotationsmitarbeiter etablieren einen beobachtenden und gleichzeitig kritischen Blick auf einen Angestellten. Der Zusammenhang, in dem sich das Gedicht befindet – es gehört zu einem Abschnitt, der mit „Fischfresser“ betitelt ist – legt einen Kellner im Fischrestaurant nahe. Auch wenn es hier wohl auf den ersten Blick ein wenig edler zugeht als im Territorium der Fastfood-Buden, offenbart der Zoom auf die Arbeitsverhältnisse keinen großen Unterschied zum Verkäufer im gleichnamigen Gedicht (Der Verkäufer), der im Schweiße seines Angesichts für Mindestlohn frittierten Fisch und sein gewinnendes Lachen auf die Theke legt.

Der Kellner ist ein „Überläufer“ – ein Wort, das nicht nur die Bewegung des schnellen Hin- und Herlaufens verbildlicht, sondern eine opportunistische Dimension impliziert. Der Überläufer wechselt die Seite – und dass es sich hierbei nicht um eine einmalige Entscheidung handelt, sondern dass das Fähnchen nach dem Winde gedreht wird, verdeutlicht das Adjektiv wechselwarm: Ein wechselwarmes Tier passt sich an seine jeweilige Umgebung an, um zu überleben. 

Im zweiten Vers verschmilzt der Angestellte mit dem Produkt, das er anbietet. Der Kittel („Kitt so sehr Kitt“), offenbart die Arbeitskleidung als Klebstoff, der den Zusammenhalt disparater Teile der Person künstlich ermöglicht. Der vierte Vers, der aus einem Wort besteht („kompartmentalisiert“) und die Folge der Alliterationen vervollständigt, bestätigt und präzisiert diese Beobachtung. Kompartimente sind voneinander abgegrenzte Bereiche, das „Mentalisieren“ evoziert den Vorgang einer mentalen Zurichtung, die sich durch Dissoziation auszeichnet. Dass der Umriss des Kellners „schizophren“ ist, fasst die Spaltung in ein neues Bild und lässt die Bedeutung des Krankhaften mitschwingen. Damit vollzieht sich eine Umwertung: Das, was gesellschaftlich als größte Selbstverständlichkeit gilt – das Angestelltenverhältnis, die Lohnarbeit – setzt mentale Veränderungen voraus, die ans Krankhafte grenzen. 

In der dritten Strophe wird das Motiv der Spaltung um das Motiv des Verbergens ergänzt: 

hab mich als Tintenfisch gedacht
als Tintenfisch
camouflagier mich mit Umgebungsfarben

Das Verspritzten der Tinte ist eine Überlebensstrategie des Tintenfischs, die ihn vor Fressfeinden schützt. Hier klingt die Dimension der existentiellen Not als unausgesprochener Hintergrund des beschriebenen Verhaltens an. Die Camouflage deutet wieder, wie schon das Adjektiv „wechselwarm“, auf perfektionierte Anpassung an die Umgebung hin.

hab tänzelnd mich unsichtbar
am Tage der Spezialofferten
Chefetagen mich offeriert

zwischen Türen schieß ich Tinte
euch in Augen · löst mich auf

Die vierte Strophe arbeitet eine paradoxe Gleichzeitigkeit heraus: Indem der Angestellte sich tänzelnd offeriert, will er die Aufmerksamkeit der Chefetage auf sich ziehen und für sie sichtbar werden, ist dabei jedoch unsichtbar. Ein Teil des Selbst in der Rolle als Angestellter scheint einem privaten, verborgenen Teil gegenüberzustehen. Dass diese Spaltung des Selbst  nicht, wie intendiert, dem Schutz des privaten Teils der Person dient, gehört zu den interessanten Wendungen des Gedichts. Der Rückzug ins Verborgene, das Verschanzen hinter der Rolle hat Konsequenzen, wie in der nächsten Strophe deutlich wird. Der Angestellte schießt den Chefs als Tintenfisch zwar Tinte in die Augen, löst sich aber selbst in der Tinte auf.

dissoziiere alle gordischen Knoten
serviere mit goldenem Schnitt

bin springender Punkt
würde gern über Schatten springen

wenn ich denn einen hätte

Der Angestellte hat die hohen Erwartungen seines Arbeitsumfelds internalisiert: Er löst die verwickeltsten Probleme und serviert „mit goldenem Schnitt“, also mit der mathematischen Relation, der seit der Renaissance eine an Göttlichkeit grenzende Harmonie zugeschrieben wird (divina proportione). Die angedeutete Harmonie ist wohl nur oberflächlich – damit die Abläufe reibungslos sind, muss der Kellner springen, auf Zuruf hin- und herrennen, ist einem fremden Diktat unterworfen. Er wird zum „springenden Punkt“, ist gleichzeitig unabdingbar und doch entbehrlich. Steigt man hinauf ins oberste Stockwerk und nimmt die Sicht der Chefetage ein, so schrumpft der Kellner zu einem winzigen Partikel im großen Getriebe. Von sehr weit oben sieht ein Mensch in Bewegung nur wie ein Punkt aus, er ist kein Individuum mehr, auswechselbar. Stimmt der Gewinn nicht, so lässt sich vermuten, wird der Kellner auf die Straße gesetzt, da hilft ihm auch seine Hingabe an das Leistungsprinzip nicht, sein vorauseilender Eifer, der im Wunsch deutlich wird, über Schatten zu springen: Hier handelt es sich ebenfalls um eine Redewendung, die aufgebrochen und umgedeutet wird. Ihre eigentliche Bedeutung – „sich überwinden, über die eigenen Möglichkeiten hinausgehen“ – stellt den Schatten als etwas Negatives vor Augen: als eine lichtlose Seite der Person, die im Wege steht. Der Angestellte besitzt jedoch keinen Schatten mehr, auf diese Erkenntnis läuft das Gedicht zu. Im Verlust wird der Schatten zu etwas Wertvollem umgedeutet. 

Das Motiv des verlorenen Schattens erinnert an Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adalbert von Chamisso (1813). Der mittellose Protagonist verkauft seinen Schatten an einen mysteriösen Herrn und bekommt dafür ein Säckchen mit Goldtalern, das niemals leer wird. Peter Schlemihl hält dies für einen guten Tausch, scheint der Schatten doch entbehrlich. Schnell jedoch wird deutlich, dass das Fehlen des vermeintlich unwichtigen Schattens auf Ablehnung stößt. Der mysteriöse Herr, der sich spätestens jetzt als der Teufel offenbart, bietet Peter Schlemihl an, ihm den Schatten im Tausch gegen seine Seele zurückzugeben, doch dieser lehnt ab und lebt von nun an als Ausgestoßener. Das Märchen endet mit dem Ratschlag, Geld niemals über den Schatten zu stellen. 

Auch das Gedicht Der Rotationsmitarbeiter hinterfragt die scheinbare „Wertlosigkeit“ des Schattens und setzt Geld (qua Lohnarbeit) in ein Verhältnis zu seinem Verlust. Doch für was steht der Schatten? Dass er sich nicht ausleuchten lässt, nicht definieren, weil er im Licht von allen Seiten wieder verschwindet, liegt nahe. Vielleicht kann die finale Frage nach dem Schatten als dunkle, lichtabgewandte Seite des Gedichtes selbst begriffen werden. Umriss gewinnen würde er dann als Gegenstück der im Text beleuchteten Mechanismen und Verhaltensweisen: Der Anpassung also, der Anbiederung an die Chefetage, der mentalen Zurichtung zum Zweck der maximalen Verwertbarkeit, der Auflösung des Selbst im Zuge der eingesetzten Täuschungsmanöver, des Verschwindens in den eigenen Überlebensstrategien. Vielleicht lässt sich der Schatten als Chiffre für den undefinierbaren Teil der Person oder sogar der Welt verstehen, der sich nicht nur der Logik der Effizienz, sondern allen umfassenden Beschreibungssystemen entzieht – und gerade dadurch immer wieder die Sprache herausfordert, über ihre festgefahrenen Wendungen hinauszugehen und zur Lyrik zu werden.

Überläufer wechselwarm
tänzelnder Fisch im Kittel
Kitt so sehr Kitt
kompartmentalisiert

eifrig überlaufend
zwischen Türen mollusk
mein schizophrener Umriss

hab mich als Tintenfisch gedacht
als Tintenfisch
camouflagier mich mit Umgebungsfarben

hab tänzelnd mich unsichtbar
am Tage der Spezialofferten
Chefetagen mich offeriert

zwischen Türen schieß ich Tinte
euch in Augen · löst mich auf
dissoziiere alle gordischen Knoten
serviere mit goldenem Schnitt

bin springender Punkt
würde gern über Schatten springen

wenn ich denn einen hätte

 

Leonie Köhler

 

Sonntag, 5. Januar 2025

Şafak Sarıçiçek´s Gedicht "Tsujiura Senbei" auf TEXTOR

 
Das Gedicht "Tsujiura Senbei" von Şafak Sarıçiçek ist auf der Seite von TEXTOR veröffentlicht.

link zu textor: textor.online

 
Auf den Zustand rücken
in die Lage setzen
diese versetzen

Sich auf Karma satteln
rattelnde Assel-Omen
kicken panschen

den Wein und
methylieren in
Rührung

Entrücken den Morgen
eindrücken die Nacht
in kondensierten Punkt

Ursprung allen Übels
zu Urei rühren zu Glückskeks:
Im Reichtum ruhn für einen Dollar

 

 

11.04.25 Rezension zu "Atemopale" von Patrick Schild bei den "Signaturen"

  Eine Rezension zum 2024er Hanns-Meinke-Preisträger Patrick Schild von Matthias Schramm beim Signaturen-Magazin: link:  Signaturen-Magazi...