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Gabriel Wolkenfeld in der "Thüringer Allgemeinen"
Ich habe einige Zeit mit Hannah Höch gelebt – um genau zu sein: für die Länge eines Buches von dreihundert Seiten. Miku Sophie Kühmel sei Dank. Die nämlich hat die Collagen-Künstlerin aus Gotha wieder zum Leben erweckt. Ich bin fast geneigt zu behaupten: Kühmel hat die Höch neu erfunden.
In ihrem dritten Roman widmet sich die Gothaer Autorin der Liebesbeziehung von Hannah Höch und der niederländischen Autorin Mathilda Brugman, genannt Til. Wir begleiten die beiden, turtelnd durch Paris. Wir sind dabei, wenn sich das Paar in Den Haag und in Berlin ein gemeinsames Leben einrichtet. Wir feiern Ausstellungserfolge und das erste Buch, das, illustriert mit Zeichnungen von Höch, auch Zeugnis einer künstlerischen Partnerschaft ist. Wir fühlen mit. Wir sind betrübt, wenn sich ein Freund verabschiedet oder wenn die Wohnung verwüstet wird und die beiden einsehen müssen, dass sie – es ist die Zeit des erstarkenden Nationalsozialismus – als Frauenpaar, gelinde gesagt, nicht erwünscht sind. Auch Gotha taucht am Rande auf, eher Kulisse, als Fluchtort und wenn es darum geht, Erinnerungen ans Aufwachsen heraufzubeschwören.
Kühmel setzt auf Collage-Prinzip in „Hannah“
Bei ihrer Recherche hat Kühmel auf Kataloge, Monografien, Anthologien und Zeitschriftenbeiträge zurückgegriffen. Sie zitiert – und fingiert – Briefe. Weil es Lücken gibt, die sie mittels Quellenstudiums nicht füllen kann, ist sie auf die Fantasie angewiesen. Das Spiel mit der Fiktion ermöglicht es uns, hautnah am Geschehen und Erleben dabei zu sein. Nicht weniger experimentierfreudig als ihr Vorbild zeigt sich Miku Sophie Kühmel. Dabei geht sie ein großes Wagnis ein, wenn sie das Prinzip der Collage auf die Literatur überträgt: Der Text erinnert an einen Flickenteppich. Kaum eine Sequenz ist länger als drei Seiten. Figuren werden nicht eingeführt. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Entweder weiß man, welche Künstler sind hinter den Namen verbergen oder man weiß es nicht.
Man könnte einwenden: Für die Privatperson Hannah Höch ist das entbehrlich. Kühmel macht, wovon ich Schreibanfänger in meinen Kursen gern abrate: Sie springt wild zwischen den Perspektiven hin- und her. In der mündlichen Rede kennzeichnet sie die Sprechenden frei nach Laune. Immerhin fallen gelegentlich Ortsnamen und als grobe Orientierung wird den Kapiteln dankenswerterweise die Jahreszahl vorgesetzt.
Zugegeben, nach zweihundert Seiten stellten sich auch bei mir Anzeichen der Ermüdung ein. Ich wurde ungeduldig und gereizt. Und doch muss ich anerkennen: Es ist beeindruckend, wie konsequent die Autorin ihrem Konzept treu bleibt und keine Kompromisse zugunsten einer bekömmlicheren Lektüre eingeht. „Hannah“ ist ein ambitioniertes Werk, ein Stück Literatur, das nicht gefällig daherkommt, sich nicht mal eben so nebenbei konsumieren lässt. Dieses Buch tut etwas, was Literatur viel zu selten tut: Es fordert.

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